Die Tochter eines ghanaischen Kakaofarmers, die trotz Terrors, Schikane und Mobbings willensstark ihren Weg ging: Seit über 15 Jahren führt Veronica Frömmrich-Duodu in Stuttgart nun einen renommierten Friseursalon. Einst wollte die 52-Jährige Ärztin werden, nun ist sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Und ein Vorbild für junge Frauen.
Ein Nachmittag Ende Dezember, die Weihnachtsfeiertage stehen vor der Tür. Doch davon ist wegen des zweiten Corona-Teil-Lockdown nicht viel zu sehen. Denn wo sonst unzählige Menschen kurz vor Heilig' Abend über die Königstraße strömen, sind die Straßen nun menschenleer, die meisten Geschäfte zwangsläufig geschlossen. Eine Stadt im Winterschlaf? Nicht ganz. Ein Schaufenster in der Fritz-Elsas-Straße, nur wenige Meter von Stuttgarts Einkaufspassage entfernt, wird von einer Weihnachtsbeleuchtung erhellt. Warmes Licht drinnen – eisige Temperaturen draußen.
Der Schlüssel dreht sich zweimal im Schloss, ein kurzes Knacken, ein angenehm süßlicher Geruch – und ich stehe in einem Friseursalon mit schneeweißen Wänden, umgeben von Pflegeprodukten und überdimensionalen Postern von normschönen Frauen. Frauen mit absurd glatter Haut. Und glänzendem Haar.
Mitten im Raum steht eine Frau mittleren Alters. Ihr lockiges Haar trägt sie lässig offen. Sie trägt ein schwarzes, enganliegendes Kleid mit weißen Mustern am Körper, dazu elegante schwarze Stiefeletten an den Füßen, üppig glänzender Schmuck an den Handgelenken – und ein Lachen im Gesicht, das selbst durch die Corona-Maske zu sehen ist und den ganzen Raum durchdringt. Ich spüre Wärme im Dezember.
Diese Frau ist Veronica Frömmrich-Duodu, Inhaberin des „Black and White Hairstudio“ in Stuttgart. Sie hat ihre Salontür heute geöffnet, trotz Lockdown. Nicht für ihre Kundinnen und Kunden, aber um ihre Geschichte zu erzählen. Wir setzen uns in die schwarzen Drehstühle aus Leder, die man aus Friseurstudios kennt. Ihre braunen Augen blicken mich fokussiert an, sie fragt: „Haben wir Zeit? Dann beginne ich ganz vorne.“ Ich nicke, sie seufzt, rückt ihren Stuhl zurecht – und nun steuern diese großen Augen an mir vorbei in die Leere des Raums, die sie nun mit Erinnerungen füllt, gut zwei Stunden lang.
Ich kann dich umbringen. Niemand fragt nach, wenn du eine Afrikanerin umbringst!
Eine 19 Jahre junge Frau, ausgelassen, neugierig aufs Leben, unbeschwert. Sie stammt aus guten Verhältnissen, ist die Tochter eines Kakaofarmers, lebt im vibrierenden Kumasi, der Hauptstadt der Ashanti-Region im Süden von Ghana. Dann lernt sie einen Mann in einer Bar kennen. Er kommt aus Deutschland, sie verstehen sich gut, haben Spaß, verlieben sich – eine klassische Teenie-Liebe. Ja, eine Romanze wie aus einem Film. Doch das Drehbuch sieht sehr schnell einen harten Cut vor, der die jugendliche Leichtigkeit durchschneidet: Sie wird schwanger, er macht sich aus dem Staub, entzieht sich seiner Verantwortung – und kehrt nach Deutschland zurück.
Für Veronica ist trotz der schwierigen Umstände klar: Eine Abtreibung kommt nicht in Frage. Die werdende Mutter, noch mehr Teenie als Frau, wird quasi über Nacht erwachsen. Sie muss. Veronica bringt ihre kleine Tochter auf die Welt, ihren ganzen Stolz. Einige Zeit später, mit einem Kleinkind auf dem Arm und ohne Sprachkenntnisse, zieht sie doch zum Vater des Kindes nach Süddeutschland. Die Schwiegereltern hatten darauf gedrängt – für Veronica ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht wird nun doch noch alles gut, vielleicht werden sie doch noch gemeinsam glücklich, als Familie.
Es kommt anders. Statt durch Familienglück muss sie durch Jahre voller Demütigung, Schikane und häuslicher Gewalt gehen. Tagsüber, wenn sie ihrem Job als Reinigungskraft in einem Krankenhaus nachgeht, ist die Welt für sie in Ordnung: Der Chef ist zufrieden, lobt sie für die gute Arbeit, die Kolleginnen und Kollegen sind nett. Der unermüdliche Kampf, die unzähligen Diskussionen, um überhaupt arbeiten gehen zu dürfen, die Stimme des aggressiven Ehemannes, der ihr gesagt habe, sie könne nichts, nicht einmal putzen – all das ist dann für einige Stunden verschwunden.
Doch je mehr sich der Tag dem Abend zuneigt, macht sich die Angst vor dem Horror in der eigenen Wohnung breit. Immer wieder kreisen sich die Gedanken um die Drohungen, die sie vom Vater ihres Kindes hören musste: „Ich kann dich umbringen. Niemand fragt nach, wenn du hier eine Afrikanerin umbringst“. Sätze, die einen Menschen brechen können. In ihrem Kopf klingeln diese in Dauerschleife. Wie ein Mantra des Schreckens, immer und immer wieder. Sie ist allein, gedemütigt, kennt sich in der Stadt, die das neue Zuhause sein soll, nicht aus, spricht die Sprache nicht und dennoch: So schwer das Herz auch wiegt, Aufgeben ist keine Option.
Was willst du mit deinem Leben anfangen?
Mit der Hilfe einer Nachbarin folgt im Winter 1991 der Umzug in ein Frauenhaus. Dem Horror entkommen, erschöpft, aber an einem geschützten Ort, findet Veronica wieder Luft zum Atmen. Der dicke, festgezurrte Knoten, von dem sie fast glaubte, er gehöre zu ihr, entweicht ihrem Körper. Von nun an hat die junge Ghanaerin einen geregelten Tagesablauf, lernt Deutsch, lebt ihr Leben ohne Angst, aber dennoch mit Sorgen.
Dann eines Tages die langersehnte Frage ihrer Betreuerin: „Du bist jung, du solltest nicht putzen gehen. Was willst du mit deinem Leben anfangen?“ Der erste Gedanke verfliegt genauso schnell, wie er ihr in den Sinn kam: Ärztin werden, das war ihr Kindheitstraum. Deutsch lernen, das Abitur nachholen, ein Medizinstudium absolvieren und das alles mit einem Kleinkind? – Undenkbar. Da gibt es aber noch einen anderen Traum: Friseurin werden. Kaum ist der Gedanke ausgesprochen, macht sich die junge Frau auf die Suche nach einer Ausbildungsstelle, findet eine, die Glücksgefühle sind groß. Die drei Jahre als Auszubildende in diesem Friseursalon in Esslingen sollen jedoch zu den schwersten ihres Lebens gehören. Nachdem sie auf der Suche nach einer Ausbildungsstelle etliche Male hören musste, dass ihre Hautfarbe der Grund für die Absage war, bekam sie jetzt zu spüren, dass eine Schwarze Frau im Deutschland der 90er Jahre mehr ertragen und gleichzeitig härter arbeiten muss als ihre weißen Mitmenschen – nicht etwa, um aufzusteigen, sondern um überhaupt gleich behandelt zu werden. Um respektiert zu werden. „Bis in mein drittes Lehrjahr hinein, war ich im Friseursalon die Putzfrau, nicht mehr“, erzählt Veronica und blickt in den Spiegel neben sich.
Sie wollten mich am Boden sehen, doch sie haben nicht verstanden, dass ich daraus meine Kraft schöpfe!
Wenn der Wecker am Morgen klingelt, geht auch das Herzklopfen los: Es ist so laut, dass ihr der Kopf dröhnt. Die Sorge vor einem neuen Tag voller Ausgrenzung, verletzender Worte und Mikroaggressionen, die wie fortwährende Nadelstiche schmerzen, auch wenn schon lange kein wundfreier Platz mehr auf der Haut ist – sie ist groß.
„Veronica, du darfst niemals ans Telefon gehen“,
„Veronica, du gehst hinter, wo dich die Kunden nicht sehen können“,
„Veronica, du darfst nur die Haare von Männern und Kindern anfassen“,
„Ich habe ja nichts gegen Schwarze, sie sollen aber nicht meine Haare frisieren“.
Es sind Sätze wie diese und noch viel schlimmere, die auf sie einprasselten und die sie heute nicht einmal selber wiederholen möchte. Zum Selbstschutz, um den traumatischen Erlebnissen kein neues Leben einzuhauchen. Doch Veronica zieht die Ausbildung durch. „Ich habe gemerkt, dass meine Kolleginnen dachten, ich wäre dumm und dass sie mich am Boden sehen wollten“, berichtet sie nun. „Doch sie haben nicht verstanden, dass ich daraus meine Kraft schöpfte. Diese Qualen haben mich zu einer Löwin gemacht.“ Veronica wollte jene, die sie ausgrenzten, beweisen, „dass ich mit meinen schlechten Deutschkenntnissen besser als sie werden kann und sie eines Tages zu mir kommen und mich um einen Job anbetteln werden“.
Von da an kämpfte sie noch härter, begegnete neben Hass und Missgunst auch Kundinnen, die sie mochten und ihre Arbeit schätzten. In der Berufsschule gab es, wenn auch nur wenige, Lehrer und Lehrerinnen die sie nicht entmutigten, sondern ihr den Rücken stärkten, allen voran „Frau Bölle“, wie sich Veronica noch heute erinnert. Als die Ghanaerin doch wieder einmal die Kraft verließ, die schmerzenden Worte der Menschen zu schwer wogen, rief Veronica ihren Bruder an, ein in Berlin lebender Zahnarzt. Sie wolle zu ihm kommen und Zahnarzthelferin werden, offenbarte sie ihm und dass sie es hier nicht mehr aushalte. Der Bruder sagte ihr ab, ohne zu zögern. „Als Zahnarzthelferin wirst du immer einen Zahnarzt brauchen, als Friseurin kannst du unabhängig sein. Du schließt deine Ausbildung ab.“ Dann legte er auf, es sollte das letzte Gespräch für die nächsten sechs Monate sein. So groß war ihre Wut.
Sie schloss die Ausbildung ab und blieb noch ein ganzes Jahr in dem Salon, der ihr drei Jahre wie eine Hölle vorgekommen sein muss. Warum? Wegen der Sorge, dass es woanders nicht besser werden könnte, wegen der Angst davor, nochmal von vorne anfangen zu müssen.
In einem Moment der Verzweiflung wandte sie sich an ihre alte Berufsschullehrerin, eben an Frau Bölle. Sie solle sich doch einfach selbstständig machen, riet die Lehrerin. Es klang so selbstverständlich, so logisch. Sie helfe ihr mit dem Papierkram und sie solle nach einer geeigneten Räumlichkeit suchen. Das Duo machte sich an die Arbeit und 2002 öffnete Veronica ihren ersten, noch bescheidenen Friseursalon im zweiten Stock eines Hauses in Esslingen: Das Black and White Hairstudio war geboren.
Noch nie hatte sie sich so stark gefühlt, noch nie so befreit. Die ersten Kundinnen und Kunden kamen und heute, 18 Jahre, zwei Umzüge, einer neuen glücklichen Ehe, einer stetigen Vergrößerung des Teams und der Kundschaft später, kommen viele von ihnen immer noch zu ihr. „Das verdanke ich auch meinem Bruder“, sagt Veronica und tippt mit ihrem rot lackierten Zeigefinger auf die Ablage neben ihr. „Er hat schon gewusst, was auf mich wartet, als ich es noch nicht mal zu träumen wagte.“
Viele meiner jungen Kundinnen und Kunden sind wie meine eigenen Kinder für mich
Die Friseurmeisterin hat im Laufe der Jahre viele ihrer Kundinnen und Kunden begleitet; sie sah zu, wie sie zu Erwachsenen heranwuchsen. „Viele meiner jungen Kundinnen und Kunden sind wie meine eigenen Kinder für mich. Ich bin stolz auf sie alle. Ich höre ihnen zu, gebe ihnen Ratschläge, tröste sie, lache mit ihnen. Aber ich sage ihnen auch immer, dass in Deutschland jedem Menschen alles möglich ist. Arme Menschen können genau wie reiche Menschen Ärztin werden – anders als in Ghana. Als Schwarzer Mensch musst du aber 200 Prozent geben, das dürfen sie nicht vergessen.“
Als eines Tages die Einladung zum Filmfestival Berlinale in ihr Postfach flattert, da sie die Frisuren für einen dort präsentierten Film gemacht hatte, kann sie es kaum glauben, ist misstrauisch. Wieder ruft sie ihren Bruder an. Sie solle hingehen, sie habe schließlich nichts zu verlieren, lautete das gewohnt pragmatische Urteil des Zahnarztes. Und wie sie ging. Gekleidet in einem traditionellen ghanaischen Kleid, in Begleitung ihrer Tochter, die ihr Leben veränderte und heute zu einer Frau herangewachsen ist, die als Friseurin in die Fußstapfen der Mutter getreten ist und die stolzer auf ihre Mutter nicht sein könnte.
Der Name des Studios war kein Zufall. Sie wollte ihrer damals kleinen Tochter und allen Kindern wie Erwachsenen damit sagen, dass Schwarze und weiße Menschen zusammengehören und in Frieden zusammenleben können. „Schwarze Frauen, weiße deutsche Männer, „Mixed race“-Kinder – sie alle kommen bei mir zusammen und niemand jammert. Nie-ma-nd jammert.“ Mit diesem letzten Satz passiert es wieder: Veronica Frömmrich-Duodu bricht in schallendes Gelächter aus und ihr Lachen erfüllt den ganzen Raum mit Wärme, ihre Augen leuchten, sie schüttelt den Kopf als würde sie selbst nicht ganz glauben, dass sie das geschafft hat und schlägt die Hände über ihrem Kopf zusammen. Sie hat es geschafft, ihr Traum ist Wirklichkeit geworden. Den Rassismus spüre sie immer noch, in den letzten Jahren wieder präsenter. Das macht ihr Sorge, dennoch glaubt sie an eine gute Zukunft.
Das ist die Geschichte von Veronica Frömmrich-Duodu – sie ist aber noch lange nicht vorbei.
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